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09.03.2017

forum jugendhilfe - Selbstverletzendes Verhalten bei Jugendlichen

Wunden an Armen, Bein und Bauch - 19. „forum jugendhilfe“ thematisiert Selbstverletzendes Verhalten von Jugendlichen

Die Teenager würden nur Aufmerksamkeit suchen, heißt es oft, wenn über das Phänomen „Selbstverletzendes Verhalten“ gesprochen wird. Doch der Grund dafür, dass sich vor allem Mädchen und weibliche Jugendliche ritzen, schneiden, verätzen oder verbrennen, liegt viel tiefer, hieß es beim 19.„forum jugendhilfe“ im Würzburger Landratsamt. Mädchen, die sich verwunden, sehen keine andere Möglichkeit, mit ihren negativen Gefühlen umzugehen.

Geschäftsbereichsleiterin Eva-Maria Löffler und Fachbereichsleiter Hermann Gabel begrüßten über 100 Fachleute aus Stadt und Landkreis Würzburg zur Veranstaltung „Selbstverletzendes Verhalten“ des Kreisjugendamts. Damit war das „forum jugendhilfe“ restlos ausgebucht. Das Interesse war noch deutlich größer, was nicht verwunderlich ist: In vielen Bildungs- und Beratungseinrichtungen in und um Würzburg wird derzeit nach Lösungen für das um sich greifende Phänomen des Selbstverletzenden Verhaltens gesucht. Dass auch zahlreiche Mädchen aus dem Landkreis davon betroffen sind, bestätigte Heidi Körbel, Jugendsozialarbeiterin an der Mittelschule Veitshöchheim.

5 von 17 Schülerinnen betroffen

2013 und 2016 hatte Selbstverletzendes Verhalten an der Schule das Ausmaß einer „kleinen Epidemie“ angenommen, schilderte die Jugendsozialarbeiterin: „In einer Klasse mit 17 Schülern ritzten sich fünf Mädchen.“ Vielen Jungs war es völlig unverständlich, was ihre Schulkameradinnen da trieben. Um bei ihnen Verständnis zu wecken, vor allem aber auch, um die bedenkliche Entwicklung zu stoppen, startete Körbel ein Aufklärungsprojekt in Kooperation mit Wiltrud Teske von der Erziehungsberatungsstelle des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF).

In Elternabenden und Workshops der beiden Fachfrauen ging es unter der Fragestellung „Ich fühl mich wohl in meiner Haut?“ aber keineswegs nur um die Gründe, warum sich so viele Mädchen Wunden an Armen, Beinen und Bauch zufügen. Die Problematik wurde eingebettet in das Thema „Pubertät“. Die Jugendlichen sollten am Ende des Workshops wissen, was mit ihnen während der Pubertät seelisch und körperlich geschieht, wie sie mit ihren emotionalen Achterbahnfahrten und wie sie mit Stresssituationen gut umgehen können.

Nachahmungseffekte befürchtet

So müssen Projekte mit der Stoßrichtung „Selbstverletzendes Verhalten“ aufgezogen werden, lobte Katja Wucherer, in Karlstadt praktizierende Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie.

Das Thema selbst in den Fokus eines Workshops oder Referats zu stellen, darauf sollten Lehrer unbedingt verzichten, appellierte sie: „Denn dann kommt es zu Nachahmungseffekten.“ Wie schnell sich Schülerinnen anstecken lassen von einer Klassenkameradin, die sich ritzt und das, was sie tut, womöglich in sozialen Netzwerken verbreitet, ist eine Erfahrung, die man eben in Veitshöchheim gemacht hat.

In vielen Fällen ist es nicht notwendig, junge Frauen in die Klinik einzuweisen, weil sie sich immer wieder ritzen oder schneiden, legte Wucherer dar. Dringend geboten ist der stationäre Aufenthalt jedoch dann, wenn der Verdacht auf Suizidalität aufkommt oder wenn die zugefügten Wunden sehr tief sind: „Denn dann besteht Infektionsgefahr.“ Wucherer plädierte dafür, immer dann medizinische oder psychologische Spezialisten heranzuziehen, wenn von Seiten der Schule nicht zweifelsfrei geklärt werden kann, ob Suizidalität oder ob eine schwere psychische Störung vorliegt.

Belastende Gefühle als Ursache

Lehrkräfte, Schulsozialarbeiter und Eltern, die mit dem Teenager über sein Verhalten sprechen wollen, müssen dafür unbedingt Zeit einplanen: „Es macht keinen Sinn, wenn in fünf Minuten der nächste Termin ansteht.“ Vor allem Eltern riet die Ärztin, sich in Ruhe mit der Problematik zu befassen und nicht in Panik auszubrechen, so schockierend es auch zunächst ist, festzustellen, wie schwer sich das eigene Kind verletzt. Als sehr hilfreichen Therapieansatz hat sich die Dialektisch-Behaviorale Psychotherapie (DBT) erwiesen, da hier mit den Jugendlichen Wege erarbeitet werden, wie Gefühle, die schwer auszuhalten sind, anders als durch Ritzen bewältigt werden können.

Eine möglichst frühe Therapie ist ratsam, so der Würzburger Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Jürgen Seifert: „Sonst besteht die Gefahr einer Chronifizierung.“ Dem Professor von der Würzburger Hochschule für angewandte Wissenschaften zufolge tritt Selbstverletzendes Verhalten oft im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen auf. So neigen 90 Prozent aller Frauen, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden, dazu, sich mit Messern, Rasierklingen, Nadeln oder Scherben zu verletzen. Auch nach Misshandlung oder sexuellem Missbrauch besteht ein hohes Risiko, dass zu Selbstverletzendem Verhalten als Möglichkeit der Spannungsregulation gegriffen wird. Nicht zuletzt bei Wahnerkrankungen kann es zu schweren Verletzungen kommen. Die Betroffenen schildern in der Klinik zum Beispiel, dass sie von einer Stimme aufgefordert wurden, sich selbst gravierende Wunden zuzufügen.

Am 19. „forum jugendhilfe“ nahm auch Vanessa Völkel vom Zentrum Bayern Familie und Soziales - Bayerisches Landesjugendamt teil. Die Kinderschutzexpertin zeigte sich beeindruckt von der Veranstaltung, bei der in zwei Stunden auf verständliche und kompakte Weise Informationen und Praxistipps transportiert wurden. Das Kreisjugendamt Würzburg sei ein „äußerst engagierter Träger der öffentlichen Jugendhilfe“, so Völkel. Mit dem Veranstaltungsformat „forum jugendhilfe“ komme ihm ein Alleinstellungsmerkmal unter den Jugendämtern in Bayern zu.