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23.07.2018

21. Fachtagung "Ziele, Wege, Stolpersteine": Feinfühligkeit und Zuwendung sind auch im digitalen Zeitalter entscheidend

Früher Bildschirmkontakt beeinflusst die Sprachentwicklung massiv, führt zwangsläufig zu Ernährungsproblemen und letztlich zum Tod. Mit dieser, von ihm überspitzten These des Hirnforscher Manfred Spitzer, leitete Moderator Prof. Dr. Hans-Michael Straßburg bei der 21. Fachtagung „Ziele, Wege, Stolpersteine“ den ersten Vortrag mit dem Thema „Das Bildungssystem Kita in der digitalen Welt – Chancen und Herausforderungen“ ein. Referentin Eva Reichert-Gaschhammer widerlegte die provokante These des Kritikers der Digitalisierung weitgehend. Nach einem kurzen Überblick über die Entwicklung der Medienerziehung in den Kindertagesstätten Bayerns, machte sie den Teilnehmern deutlich, dass die Digitalisierung ein „globaler, unaufhaltsamer Prozess ist, der starke Veränderungen mit sich bringt“ und nicht etwa eine vorübergehende Modeerscheinung.

Unter dem Motto „Herausforderung Kita heute“ hatten das Amt für Jugend und Familie und das Gesundheitsamt Würzburg wieder in die Mainfrankensäle nach Veitshöchheim eingeladen. Rund vierhundertfünfzig Erzieher, Pädagogen und Sozialarbeiter aus Kindertageseinrichtungen und der Tagespflege für Kinder unter sechs Jahren waren gekommen. Im Arbeitskreis „Kind und Gesundheit“, dem Veranstalter, arbeiten von der Arbeitsgemeinschaft niedergelassener Kinderärzte über Frühförderungsstelle und Frühdiagnosezentrum bis hin zur Kindertagesbetreuung in Stadt und Landkreis Würzburg oder staatlichem Schulamt zahlreiche Institutionen, Organisationen, Kliniken und Behörden zusammen.

Neben der Digitalisierung seien verunsicherte und oftmals überforderte Eltern eine Herausforderung für Kitas heute, stellte Landrat Eberhard Nuß bei der Eröffnung fest. Im Sinne einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft hätten Pädagogen auch die Aufgabe, Eltern und Familien in einer zunehmend medial geprägten Welt zu beraten und zu begleiten. Falsche Erwartungen und hohe Ansprüche erzeugten Unsicherheit und führten oftmals dazu, den Nachwuchs überzubehüten. „Manchmal übernimmt das Handy die Rolle einer verlängerten Nabelschnur“, warnte Nuß vor einer Erziehung zu Unselbstständigkeit, ohne ausreichende Freiräume. „Ich selbst erlebte meine Kindheit mehr draußen als drinnen, ohne allgegenwärtige erwachsene Aufpasser.“


Digitale Transformation als vordringliche Aufgabe

Informieren, Lernen, Arbeiten und Kommunizieren veränderten sich derzeit radikal, führte die Referentin Nuß‘ Gedanken weiter. Das biete viele Chancen, gerade was die Teilhabe von Kinder mit Benachteiligungen und Behinderungen angehe, berge aber auch Risiken. Notwendig sei deshalb, so die stellvertretende Direktorin am staatlichen Institut für Frühpädagogik (IFP), eine digitale Transformation, die alle auf dem Weg in die veränderte Zukunft mitnehme.

Naturgemäß sei das auch eine Aufgabe der Kita als Bildungseinrichtung. Derzeit gelte es den hohen Forschungs- und Entwicklungsbedarf zu erfüllen. „Der Handlungsdruck wächst“, stellte sie klar. Die Frage sei nicht, ob digitale Medien in den Alltag der Kita gehören, sondern wie: „Es geht um ein gutes und gesundes Aufwachsen mit Medien.“ Dass auch viele Einrichtungen das erkannt haben, zeigt der Ansturm auf das bayerische Projekt „Medienkompetenz in der Frühpädagogik stärken“. Mit 100 teilnehmenden Kitas, 15 in Unterfranken, ausgewählt aus mehr als 300 Bewerbern, sei das Vorhaben in Deutschland das bisher größte seiner Art.

Mit Kreativität ran an Maus und Tablets

Das Ziel moderner Medienerziehung sei klar: „Junge und ältere Menschen müssen befähigt werden, sich in einer digitalen Welt zurechtzufinden, sich souverän darin zu bewegen.“ Frühzeitiges Erlernen von sinnvollem Umgang mit Tablet, Handy und Co. schütze vor Suchtgefährdung, so Reichert-Gaschhammer. Im Fokus stehe in der frühkindlichen Medienerziehung nicht der Konsum (vergleichbar dem Fernsehen), sondern das Kennenlernen kreativer, interaktiver und risikofreier Nutzung. Unterstützung finden Einrichtungen im Netz, etwa im Portal „Ran an Maus und Tablets“ und im Portal www.kita-digital-bayern.de.

Für alle Erziehenden mit Vorbildfunktion sei eine ausreichende Online-Offline-Balance wichtig, Regeln, feste Zeitabsprachen sowie auf Qualität der Anwendungen und Abwechslung zu achten. „Die Kinder sollten das Tablet als ergänzendes Werkzeug erleben, das andere nicht ersetzt, aber neue Spielformen und Anlass für Gespräch und Interaktion schafft.“ Neben WLAN und der entsprechenden technischen Ausstattung seien Schulungen und Weiterbildungen fürs Personal Pflicht – sowie eine professionelle IT-Betreuung im Sinne eines intelligenten Risikomanagements.

Familienzeit statt Stress als Zerreißprobe für Familien

Mit der Zerreißprobe, der viele Familien heute ausgeliefert sind, beschäftigte sich die Münchner Diplom-Psychologin Prof. Dr. Fabienne Becker-Stoll. Bei ihrer Mitarbeit am achten Familienbericht wurde ihr deutlich vor Augen geführt, wie wichtig der Faktor Zeit für Familie ist. „Verlässliche Zeit für Interaktionen zu haben“ sei für stabile Partnerschaften unabdingbar und für Kinder enorm wichtig. Feinfühligkeit, also schon vom ersten Lebenstag an die noch so kleinen Signale des Kindes wahrzunehmen und angemessen darauf zu reagieren, sei die wichtigste Grundlage für eine stabile Eltern-Kind-Beziehung.

Neben beruflichen und familiären Umbrüchen habe das allgegenwärtige Smartphone großes Potenzial, diese Beziehung nachhaltig zu stören. Wie in der Familie sei auch in der Kita die Interaktionsqualität entscheidend. Welches Medium – von Buch bis Tablet – Gespräch und Kreativität anrege, sei unwichtig. Mehr zum Thema - übersetzt in viele Sprachen – findet sich in der Broschüre „Stark durch Bindung“ sowie dem zugehörigen Leporello, zum Herunterladen oder Bestellen auf der Homepage des IFP.

Die Frage „Verrückte Kinder oder verrückte Welt? – Sind Kinder heute herausfordernder als früher?“ beantwortete Jan Rösler, Diplom-Psychologe und Dozent für Pädagogische- und Entwicklungspsychologie an der Universität Würzburg und der Fachhochschule Würzburg-Schweinfurt: Alle Studien belegen eindeutig, dass die Prozentzahl der Kinder mit diagnostisch belegbarem, auffälligem Verhalten in den vergangenen Jahrzehnten gleich geblieben ist. Was sich geändert hat, vermutet er, sei, wie man Kinder und ihr Verhalten wahrnehme, mit ihren Eigenheiten und ihrer individuellen Weltsicht umgehe.

Das sei einerseits gut, aber auch kritisch zu betrachten: „Wir schauen genauer hin, halten aber auch weniger aus.“ Unrealistische Erwartungen und der Stress, dem Familien heute ausgesetzt sind, ließen Kinder in höherem Maß als anstrengend erleben. Gestiegen sei zudem der Anspruch, „normale Kinder“ zu haben. Dabei seien Ausreißer von der Norm normal. Normwerte sind nur Mittelwerte, führte der Psychologe aus, aber keine unverrückbaren Meilensteine, die es anzustreben gelte. „Wir brauchen nicht Kinder, die zur aktuellen Pädagogik passen, sondern Pädagogik, die zu den Kindern passt.“

Wertschätzung und die Balance zwischen Grenzen und Freiräumen

Als Mittel der Wahl empfahl er die autoritative Erziehung, die auf drei Säulen ruht: Wertschätzung, Grenzen setzen und Selbstständigkeit, im Sinne von eigenverantwortlichem Handeln, einüben und stärken. Kinder auf Augenhöhe zu erziehen, heiße nicht, Eltern und Kindern in der Entscheidungskompetenz gleichzusetzen, sondern partnerschaftlicher und wertschätzender Interaktionspartner zu sein, sich in die Perspektive des Kindes zu versetzen und sein Bedürfnis herauszufinden.

Heute, beendete er seinen Vortrag, fokussiere man sich in der Erziehung zu sehr auf Produkte (= Lösung für ein Problem) statt auf Prozesse (= die Fähigkeit, ein Problem zu lösen). Das Kind selbst werde oft als Produkt betrachtet, das gewissen Standards zu genügen habe. Es brauche wieder mehr Mut, klare Strukturen zu setzen, den Kindern aber zugleich Freiraum für ergebnisoffenes Handeln zu lassen: „Die Prozesse, nicht das Produkt sind entscheidend“. Kinder auf ihren selbst gewählten Wegen zu unterstützen, sei zielführend.

Mit einem „Ein Wegweiser durch den Beratungsdschungel“ von Diplom-Psychologin Dr. Verena Delle Donne und Diplom-Sozialpädagogin Gabriele Amend-Tiedemann und deren beruhigendem Hinweis, dass Familien und Einrichtungen vielfältige Hilfsangebote, die aus der Verunsicherung heraus und zurück zu Stabilität helfen, meist kostenfrei zur Verfügung stehen, endete die Tagung.

Weitere Infos und die Fachtvorträge finden Sie auf der Seite "Ziele, Wege, Stolpersteine".


Nachgefragt bei Jan Rösler, Diplom-Psychologe

„Kinder heutzutage zeigen immer häufiger herausforderndes Verhalten. Daran gibt es doch keine Zweifel, oder?“

Jan Rösler: Tatsächlich lässt sich dieser oft geäußerte Eindruck statistisch nicht belegen. Im Gegenteil: Die große Langzeitstudie des Robert-Koch-Institutes zur Kindergesundheit (KiGGS) zeigt, dass die gefühlte Zunahme nicht der Realität entspricht. Kinder werden oft als auffällig erlebt, obwohl sich das diagnostisch nicht bestätigt.

Was schließen Sie daraus?

Rösler: Nicht die Kinder haben sich oder ihr Verhalten verändert, aber wir unseren Umgang mit kindlichem Verhalten.

Inwiefern?

Wir schauen genauer hin. Was gut ist, denn tatsächliche Auffälligkeiten werden so früher und schneller erkannt. Andererseits gibt es den Trend, Kinder und kindliches Verhalten in zu enge Normen pressen und jede noch so kleine Abweichung vom vermeintlich Normalen therapieren zu wollen. Eltern glauben heute oft, einen Anspruch auf ein „normales Kind“ zu haben und fordern diesen bei Erziehern und Therapeuten ein.

Woran liegt das?

Rösler: Mit sinkender Kinderzahl in der Gesellschaft und der Flut an verfügbaren Informationen wachsen Unsicherheit und Angst vor nicht-normaler Entwicklung. Das wiederum führt zu noch mehr Beobachtung. Das spüren auch die Kinder und werden ebenfalls zunehmend verunsichert. Hinzu kommt, dass Kinder heute oft geplant und bewertet werden wie Produkte. Sie sollen sich so schnell wie möglich in die Produktionsprozesse unserer Gesellschaft einfügen, sollen funktionieren, sich anpassen. Dabei sind Kinder quasi per se Ausdruck eines Prozesses.

Wie ist das zu verstehen?

Rösler: Ein Produkt steht als Synonym für eine fertige Problemlösung. Ein Prozess ist die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Wir sollten Kinder bei Letzterem kreativ begleiten, statt Ersteres von ihnen zu fordern. Prozesse sind das Entscheidende und Kinder keine zu optimierenden Produkte.

Was kann man, was können Eltern konkret tun?

Rösler: Ich empfehle eine Erziehung, die auf drei Säulen basiert: Wertschätzung, Fordern und Grenzen setzen sowie Eigenständigkeit gewähren und eigenverantwortliches Handeln stärken.

Das klingt einfach. Warum gibt es in der Praxis so viele Probleme damit?

Rösler: Weil es uns selten gelingt, die Dinge aus der Kinderperspektive zu sehen. Erwachsenen-Maßstäbe passen nicht zu kindlichem Handeln. Um die Bedürfnisse der Kinder herauszufinden, braucht es Feinfühligkeit und die Bereitschaft, sich aufs Kind einzulassen. Das ist übrigens mit „Augenhöhe“ gemeint, nicht etwa dem Kind alles zu überlassen. Die individuelle Weltsicht des Kindes wertzuschätzen heißt nicht, diese zu übernehmen. Ein fester Rahmen ist für Kinder wichtig. Wir dürfen von ihnen durchaus fordern, Verantwortung zu übernehmen, müssen aber die Kontrolle behalten.

Fordern und Kontrollieren ist nicht etwa das Gegenteil von Akzeptanz und Wertschätzung, sondern unabdingbarer Bestandteil. Denn Kinder haben noch sehr lange Schwierigkeiten mit planendem und vorausschauendem Handeln, da sich die dafür notwendigen Areale im Gehirn noch bis zum frühen Erwachsenenalter weiterentwickeln. Übrigens: Stress ist der größte Killer für Feinfühligkeit.


Text und Fotos: Traudl Baumeister