Seiteninhalt

08.10.2010

Erinnerung geht durch den Magen


Auf den Spuren der Kindheitstage in der Region Olmütz unterwegs
 
Schwere, dunkle Ackerflächen, ein weiter Blick über die Landschaft – es sieht ein wenig aus wie im Ochsenfurter Gau, wenn der Reisebus durch die Hana-Ebene, das fruchtbare Becken um Olmütz fährt. Vielleicht fühlt sich Gerlinde Kellner, die heute in Ochsenfurt lebt und in der Nähe von Mährisch-Sternberg aufgewachsen ist, deshalb so vertraut, wenn sie die alte Heimat besucht. Die zweite Bürgerreise des Landkreises Würzburg in die tschechische Partnerregion Olmütz (Olomouc) war für viele Mitreisende eine Fahrt zu den Wurzeln ihrer Familie.
 
„Wenn wir durch die Dörfer fahren, fallen mir immer wieder Bekannte und Verwandte ein, die hier einmal gewohnt haben“, beschreibt Gerlinde Kellner ihre Reiseeindrücke. Sie lebte bis zu ihrem zwölften Lebensjahr in Bladowitz (Mladějovice). „Ich lebe heute sehr gerne in Ochsenfurt, dort geht es mir gut. Aber meine Wurzeln sind hier“, sagt sie. Und: „Die Heimat kann ich nicht vergessen.“ Dann fügt sie hinzu: „Vielleicht schließt sich hier auch ein Kreis. Ich bin eine geborene Popp, und der Bürgermeister von Bladowitz meint, der Name Popp komme ursprünglich aus dem Ochsenfurter Gau.“
 
Kulinarische Nostalgie
Erinnerung geht offenbar auch durch den Magen, denn: „Wir haben in dieser Woche dauernd miteinander gekocht“, schmunzelt Gerlinde Kellner. Und das nicht, weil die Verpflegung während der Bürgerreise unzureichend gewesen wäre. Die Ochsenfurterin kam gemeinsam mit ihren Tischnachbarn ins Schwelgen und Erinnern, was „daheim“, also in ihrer Kindheit in Mähren, auf den Tisch kam. In einer Konditorei in Leipnik entdeckte Gerlinde Kellner Schaumrollen, ein Gebäck mit klebrigsüßem Inhalt, die sie seit Kindheitstagen liebt. Die mit Nüssen gefüllten Oblaten sind als Souvenir ein Muss. Und auch die Pflaumenknödel mit Vanillequark, die zum Mittagessen in Mährisch-Schönberg serviert wurden, wecken süße Erinnerungen. Lungenbraten, mit Speck gespicktes Rindfleisch, das mit viel Gemüse gebraten wird, gehört ebenso zu den nostalgischen kulinarischen Genüssen der Reise.
 
Liebe zur „Geburtsheimat“
„Meine Heimat ist für mich heute Würzburg“, berichtet Emmi Hämel. Aber die Liebe zu ihrer „Geburtsheimat“ Spieglitz in Nordmähren lässt sie immer wieder begeistert von früher erzählen. Sie war neun, als ihre fünfköpfige Familie Mähren verlassen musste. Ihre Schildkrötpuppe und ihr Teddy durften mit, als es am 24. Mai 1946 um 6 Uhr frühs mit dem Pferdefuhrwerk von Spieglitz nach Mährisch-Schönberg ins Durchgangslager ging. Das Kätzchen Rammi musste zurückbleiben.

Fotos von ihrem Elternhaus, dem ehemaligen Zollhaus von Spieglitz, trägt sie in der Tasche. Es tut weh, das einst stattliche Haus dem Verfall preisgegeben zu sehen. Seit 1975 besuchte sie ihre Geburtsheimat schon oft. Vor allem das Altvatergebirge als Wanderparadies lohnt immer wieder den Besuch, schwärmt sie.
 
Herzlicher Empfang in Mährisch-Schönberg
Erika Fries aus Gerbrunn kennt die Geschichte der Vertreibung nur aus den Erzählungen der Mutter, die ihr vom Transport nach Furth im Wald, vom Sammellager in Gerlachsheim und von der Verteilung auf dem Marktplatz von Tauberbischofsheim berichtete. Sie war drei Jahre alt, als sie 1946 ihr Dorf Niederlindewiese im Altvatergebirge verlassen musste. 1991 kehrte sie mit der Ortsgruppe Lindewiese der Sudetendeutschen Landsmannschaft zum ersten Mal zurück. Ohne die Eltern, die fürchteten, es wäre zu schmerzhaft. „Den Familiennamen in der Kirchenbank zu lesen, das hat schon wehgetan“, meint die Gerbrunnerin. Aber den Taufstein zu sehen, an dem sie getauft wurde, und die Schubert-Messe in der Dorfkirche mitzusingen, das war ergreifend.

Den stärksten Eindruck von der Bürgerreise bescherte ihr Petr Suchomel, 2. Bürgermeister von Mährisch-Schönberg und einer, der die Partnerschaft mit dem Landkreis Würzburg seit vielen Jahren aktiv mitgestaltet. Er bot Erika und Elmar Fries spontan an, sie auf den Friedhof zum Grab der Großmutter und der Urgroßeltern zu bringen. „Überhaupt, der herzliche Empfang im Rathaus von Mährisch-Schönberg, das hat mich sehr berührt“, sagt Erika Fries.

Die Würzburgerin Helga Preuss musste 1946 als Siebenjährige ihren Heimatort Freiwaldau im Altvatergebirge verlassen. In Bad Gräfenberg verbrachte sie einige Monate in einem Kinderheim. Während der Bürgerreise ergibt sich ein goldener Herbsttag, ein idyllischer Spaziergang durch die Allee des Kurorts Bad Gräfenberg mit herrlichem Blick aufs Altvatergebirge. Helga Preuss bleibt stehen und wundert sich: „Auch wenn ich keine bewussten Erinnerungen an den Ort habe, fremd fühle ich mich hier überhaupt nicht.“
 
Für die Kinder, die bis 1946 mit ihren Familien in Mähren lebten, war der Radius damals recht klein. Die Bürgerreise des Landkreises Würzburg war deshalb für viele eine willkommene Gelegenheit, die weitere Umgebung der alten Heimat besser kennen zu lernen. Olmütz, Kremsier, Mährisch-Schönberg, zahlreiche Begegnungen, in denen es um die deutsch-tschechische Geschichte, aber auch um die aktuelle politische, kirchliche und soziale Situation der Tschechischen Republik ging, interessierten die „Sehnsuchtsreisenden“ sehr.

Verbitterung oder gar Unversöhnlichkeit über das Schicksal ihrer Familien ist bei keinem zu hören. „Wir haben es in Deutschland ja gut getroffen und konnten uns eine neue Existenz aufbauen. In der sozialistischen Tschechoslowakei wäre es uns nicht so gut ergangen“, sind sich Emmi Hämel, Gerlinde Kellner, Helga Preuss und Erika Fries einig.

Kein Ergebnis gefunden.