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28.10.2019

Stadt und Landkreis Würzburg feiern zehn Jahre "KoKi-Netzwerk frühe Kindheit"

Die allermeisten Kinder haben besorgte Eltern, die das Beste für ihren Sohn oder die Tochter wollen. Doch nicht alle Eltern sind imstande, ihrem Kind das, was es braucht, zu geben. Denn sie haben selbst mit großen Belastungen zu kämpfen. Hier hilft „KoKi - Netzwerk frühe Kindheit“, welche vor genau zehn Jahren in Stadt und Landkreis Würzburg gegründet wurde. Mit einer Fachtagung, zu der alle Netzwerkpartner eingeladen waren, wurde das Jubiläum im Landratsamt gefeiert.

„Koordinierende Kinderschutzstellen“ helfen Alleinerziehenden, psychisch kranken Müttern und Vätern sowie Eltern in materieller Not. „In den vergangenen zehn Jahren haben wir gemeinsam rund 800 Familien erreicht“, berichtete Christine Dawidziak-Knorsch, die im Würzburger Landkreis für KoKi verantwortlich ist. In 190 Familien wurden Fachkräfte der Frühen Hilfe eingesetzt, weitere 140 Familien wurden durch Ehrenamtliche entlastet. 120 Mal organisierte KoKi ein Mutter-Kind-Café in der Würzburger Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber. 48 Mal fand das mobile Elterncafé „Babytalk“ statt.

Netzwerk unterstützt bei häuslichen Krisen

Die zehn Jahre umfassende Chronik zeigt, dass KoKi eine „segensreiche Einrichtung für Familien in Stadt und Landkreis“ ist, erklärte Landrat Eberhard Nuß. Wobei KoKi alleine nicht gewährleisten könnte, dass Kinder gesund aufwachsen. Nuß: „Hinschauen und Auffälliges melden, dazu sind alle Bürger verpflichtet“.

KoKi soll verhindern, dass sich häusliche Krisen zuspitzen. Um dies zu erreichen, müssen viele Menschen und Organisationen an einem Strang ziehen, betonte auch Würzburgs Oberbürgermeister Christian Schuchardt. KoKi arbeitet zum Beispiel mit Fachstellen wie der Schreibabyberatung oder mit dem Kinderschutzbund zusammen, auch „Familienhebammen und Familien-Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen werden häufig eingesetzt.“

Durch KoKi gewann der präventive Kinderschutz in Bayern eine neue Dimension, erklärte Isabella Gold, die im Bayerischen Sozialministerium für Jugendhilfe verantwortlich ist. Zwar gab es auch schon vor KoKi Frühe Hilfen. Doch sie waren nicht gebündelt. Die derzeit rund 250 KoKi-Fachkräfte in Bayern wissen, welche Unterstützungen Familien vor Ort erhalten können. Sie verweisen zum Beispiel auf die örtliche Schuldnerberatung oder auf die Frühförderstelle. Aufgabe der KoKis ist es aber auch, zu ermitteln, ob es vor Ort Angebotslücken gibt, und Wege zu finden, diese Lücken zu schließen.

Entscheiden, welche Hilfe wirklich hilft

Kinderschutzfachkräfte müssen jeden Tag wichtige Entscheidungen treffen, erklärte die aus Münster stammende Psychologin Martina Cappenberg deren Vortrag im Mittelpunkt der Fachtagung stand. Nicht jede Hilfe, die möglich ist, nütze einem gefährdeten Kind: „Es gibt Eltern, die ihre Kinder einfach nicht erziehen können.“ Bevor eine Hilfe angeboten wird, müsse sorgfältig darüber nachgedacht werden, ob die Unterstützung überhaupt greifen kann: „Wir können nicht davon ausgehen, dass etwas ‚geht’, sondern müssen uns immer die Frage stellen: ‚Geht es wohl oder geht es möglicherweise nicht?’“

Ganz genau hinzuschauen sei deshalb enorm wichtig, weil traumatisierte Kinder ein paradoxes Verhalten zeigen können, legte Cappenberg am Beispiel des dreijährigen Kai dar, dessen Vater in seinem Beisein die Mutter tötete. Der Vater bestand darauf, im Gefängnis Umgang mit dem Kind zu haben. Der Junge wurde also ins Gefängnis gebracht: „Wo er dem Vater sofort auf den Schoß sprang und eine Stunde nicht mehr wegzubringen war.“ Dies habe jedoch nicht daran gelegen, dass der Junge seinen gewalttätigen Vater so geliebt habe: „Sein Verhalten war Ausdruck einer hoch pathologischen, extremen Angstbindung.“

Es braucht vertiefte Kenntnisse, um dies zu diagnostizieren. „Das Verhalten eines Kindes kann nie für sich alleine genommen werden, es muss immer fachlich beurteilt werden, indem man mehrere Erkenntnisquellen heranzieht“, erläuterte die Psychologin und Gerichtsgutachterin. Die Entscheidung, den Jungen zu seinem Vater zu lassen, war nach ihrer Einschätzung falsch: „Der Junge hatte seinen Vater nur dreimal in seinem Leben gesehen, und jedes Mal in Gewaltsituationen.“ Dass der Wille des Vaters nach Umgang dennoch erfüllt wurde, sei vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar: „Auch durch solche Fehlentscheidungen ist der Kinderschutz gefährdet.“

Bayerische KoKi bundesweit einmalig

Eltern, die zur Flasche greifen, die harte Drogen nehmen, kriminell oder psychisch krank sind, können sich oft nicht gut um ihr Kind kümmern. Das emotionale Leiden der bei diesen Eltern aufwachsenden Jungen und Mädchen sei allerdings viel schwerer zu erkennen als das Leiden geprügelter oder körperlich vernachlässigter Kinder: „Es gibt ja keine Hämatome und kein Untergewicht.“ Doch gerade auch emotionale Vernachlässigung könne gravierende kognitive, körperliche und soziale Folgen haben.

Wie unsensibel noch immer mit misshandelten Kindern umgegangen wird, zeigt laut Cappenberg eine Statistik, der zufolge geschlagene Kinder bis zu sieben Mal von der häuslichen Gewalt erzählen müssen, bis ihnen jemand glaubt. Wobei es viele Kinder nach dem zweiten oder dritten Versuch aufgeben, Hilfe zu suchen. „Das ist ein Drama“, so die Psychologin. Denn viele dieser Kinder hätten unter den Folgen lebenslang zu leiden: „Frühe Erfahrungen sind äußerst wirkmächtig.“

Dass Familien, die in eine Krise geraten, in Bayern dank KoKi so viele Hilfsangebote vorfinden, sei bundesweit etwas „Besonderes“, so Cappenberg. Ihr großer Wunsch wäre es, dass in Zukunft alle Kinder, die durch Misshandlung oder Vernachlässigung traumatisiert wurden, die Chance erhalten, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Hier besteht nach ihrer Einschätzung noch großer Nachholbedarf. Doch ohne Traumaverarbeitung steige die Gefahr, dass die Kinder später nicht imstande sind, gut mit ihren eigenen Kindern umzugehen.